Stell dir vor, wie Riesi sein könnte. Wir feiern 850 Jahre Waldenser mit einer Wanderausstellung vom 08. September bis zum 12. Oktober in der Lukaskirche. Die Ausstellung "Immagina Riesi – Stell dir vor wie Riesi sein könnte" ergänzen wir mit einem Begleitprogramm unter dem Motto "Stell dir vor, wie unsere Gemeinde sein könnte: Abend-ma(h)l anders."
Im heutigen Italien sind die Waldenser eine protestantische Minderheit. Obwohl sich weniger als 20.000 Menschen als Waldenser bezeichnen, schaffen sie es vor allem durch ihre diakonische Arbeit in Italien eine Stimme zu haben. Diese Stimme wird gehört: Etwa 500.000 Italiener spenden jährlich über die Steuererklärungen ihre Kultursteuer an die waldensische Diakonie.
Hier knüpft die Foto-Ausstellung an, die vom 08. September bis zum 12. Oktober in der Lukaskirche zu sehen sein wird. Immagina Riesi, "Stell dir vor, wie Riesi sein könnte" – protestantisch auf Sizilien, greift die Arbeit rund um das Diakonieprojekt "Servizio Cristiano" (Christlicher Dienst) auf, das vom Waldenser Pastor Tullio Vinay 1961 ins Leben gerufen wurde. Dieses Projekt strahlt bis heute nicht nur auf die sizilianische Kleinstadt Riesi aus.
Der Fotograf Gustavo Alàbiso - Sohn eines waldensischen Diakonenpaares – hat seine Kindheit dort verbracht und wuchs in und mit dem sozialen Projekt auf. Er gehörte 1968 zu den ersten Kindern, die die neugegründete Grundschule des Servizio besuchten. 2015 machte er sich auf den Weg, die in ganz Europa verstreuten alten Schulkameraden zu besuchen. So entstanden auch Fotos, die in der Wanderausstellung zu sehen sein werden. Durch seine Bilder nähern wir uns dem sehr katholisch geprägten Ort Riesi, dem heute denkmalgeschützten Gebäudeensemble des Servizio Cristiano und insbesondere verschiedenen Menschen, deren Leben mit dem Projekt verbunden ist.
Alàbisos Suche wurde von zwei Journalisten begleitet und verfilmt. Der Film „Una storia valdese“ (Italien 2019, 76 Min.) dokumentiert das nachhaltige Wirken reformierter Diakonie und Identität im heutigen Europa. Der Film wird am 23. September im Rahmen des Begleitprogramms in der Lukaskirche zu sehen sein.
Die Ausstellung wurde als Projekt von Ehrenamtlichen der hugenottischen Friedrichstadtkirche in Berlin konzipiert und gemeinsam mit dem Fotografen Alàbiso realisiert. Finanziell unterstützt wird die Ausstellung u.a. durch die Region Sizilien, aus Bonn von der Lukaskirchengemeinde und dem Evangelischen Forum, von den Gemeinden an den anderen Ausstellungsorten und vielen weiteren Sponsoren. Die Ausstellung kommt von Berlin zu uns und wird danach in Karlsruhe, Anfang 2025 in Basel und im Frühjahr 2025 in Worms zu sehen sein.
Warum Riesi auf Sizilien?
In Riesi gibt es seit 1871 eine kleine Waldensergemeinde. In diese Gegend des Schwefelbergbaus, der Kinderarbeit und der großen Armut entsandte die Waldenserkirche 1961 den Pastor Tullio Vinay (1909-1996). Vinay war überzeugt, dass Kirche den Auftrag hat, sich fortzuschenken und in der Welt tätig zu sein, wo die Menschen sie brauchen. Mit dieser Vision hatte er bereits wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in den piemontesischen Alpen die Ökumenische Begegnungsstätte "Agape" aufgebaut. Innerhalb weniger Jahre war dort ein ungewöhnlicher Ort der Begegnung und der Versöhnung entstanden. Vor allem junge Menschen aus Europa und Übersee und Angehörige verschiedener Religionen trafen sich hier in mehrwöchigen Arbeits- und Studiencamps und diskutierten über aktuelle Fragen der Theologie und soziale Bewegungen.
Vinay entwickelte auch für Riesi eine Vision. Dort in dieser vernachlässigten Region des Südens wollte er „soziale Erlösung“ durch Bildung ermöglichen. Eine Gemeinschaft von aktiven "Agapini" begleitete Vinay und seine Familie nach Riesi. Sie wollte den Geist der praktischen Nächstenliebe – eben "Agape" – weiter in die Welt tragen. Mit Unterstützung des Ökumenischen Rats der Kirchen und vieler internationaler Freiwilliger gründeten sie den Servizio Cristiano. Auch der Architekt des Begegnungszentrums "Agape" Leonardo Ricci unterstützte das Projekt. Der Freund Vinays stammte ebenfalls aus einer Waldenserfamilie. Für Riesi entwarf er fast futuristisch anmutende Bauten, die mit lokalen Materialien unter Olivenbäumen am Ortsrand errichtet wurden. So entstanden eine Grundschule und eine Berufsschule für Feinmechaniker. Später kamen Wohnbauten für die Mitarbeitenden hinzu. Das Ensemble sollte auch nach außen Hoffnung und Zukunft vermitteln.
Vinay richtete in den nächsten Jahren eine der ersten Familienberatungsstellen Italiens im „Servizio Cristiano“ ein. Außerdem engagierte sich das Diakoniezentrum zivilgesellschaftlich, indem es die Gründung einer Winzergenossenschaft sowie ein Kulturzentrum anstieß. Diese konsequente Präsenz löste aber auch große Widerstände auf Seiten der Politik, der katholischen Kirche und der Mafia aus, die Vinay persönlich zusetzten. Von 1973 bis 1986 saß er als Parteiloser für die Kommunistische Partei Italiens im italienischen Senat.
Riesi gehört immer noch zu den vernachlässigten Gegenden des Südens mit einer der höchsten Emigrationsquoten Italiens. Der Servizio Cristiano ist weiterhin da und leistet Sozial- und Bildungsarbeit im Ort. Die Winzergenossenschaft gehört inzwischen zu den größten Siziliens, und das Kulturzentrum besteht noch heute. Seit 1984 wird die Einrichtung von der Diakonie der Waldenserkirche betrieben.
Warum Bonn?
Wir feiern nicht nur mit der Waldenserkirche gemeinsam 850 Jahre Bestehen der Bewegung, vor allem feiern wir die Ideen und den Geist der Reformation, der uns mit den Waldensern verbindet. Mit dem Blick auf Riesi greifen wir ein Verständnis für die Rolle von Kirche auf, das Tullio Vinay vertreten hat und das heute aktueller denn je erscheint. Es kann uns ein Kompass sein für die nahe Zukunft, in der finanzielle und personelle Mittel knapper sein werden.
Riesi war anfangs nur eine Idee. Am Ende haben sich viele Menschen dafür begeistert und sie mit Leben gefüllt. Das Leben vieler Menschen wurde durch Riesi bis heute geprägt. Das hat viel mit der Arbeit der Waldenser zu tun, aber auch damit, dass in Riesi ein Raum entstanden ist für den Austausch und für Gemeinsames. Das ist ein Anstoß auch für uns: Gerne möchten wir mit der Gemeinde neue Formate des Gemeindelebens ausprobieren - Abend ma(h)l anders.
Fotos: Gustavo Alàbiso